Darkroom Yarn Workshop 2018

29. März 2018

Geschichten. Geschichten erzählt man sich seit jeher. Damals, in der alten Zeit, wärmten sie uns am Feuer. Geschichten von Drachen, Rittern und Helden.

Die Sonne sinkt hinter den Horizont, als ich über die Autobahn düse. Auf der Spur, die in Richtung Polen führt – ein Lichtermeer. Ein LKW nach dem anderen. Alle wollen nach Hause. Ich nicht. Ich will zu den Geschichten. Es geht vorbei an Orten mit wohlklingenden Namen wie „Hübelschenkhäuser“ oder „Oberottendorf“. Ich versuche die Ortsnamen auszusprechen, als sei ich Texaner. Ob jemals jemand aus Amerika in Hübelschenkhäuser war? Das ist eine andere Geschichte.

In der Ferne tauchen die ersten Gipfel der sächsischen Schweiz auf. Mein Auto bahnt sich mit mir den Weg durch die Dämmerung. Aus dem dunklen Wald ins Helle: Am Stadtrand von Sebnitz wird unter Flutlicht Football gespielt. Da sind sie also, die Amerikaner!

Ein paar Kilometer weiter glitzert sie dann, die Elbe im Dunklen. Der Empfang wird mit jedem Kilometer schlechter. Irgendwann bin ich da. Schmilka. Ein paar Häuser, eingequetscht zwischen Fluß und Berg. Menschen sehe ich keine. Ich höre nur die Elbe rauschen. Auf der anderen Seite rattert ein Güterzug durch das Tal. Mein Auto parkt noch nicht lange vor dem Biohotel Helvetia, da nähert sich eine Menschenmenge. Dunkle Gestalten. Stimmengewirr. Ein lautes Lachen klingt durch die Nacht. Ein Mann mit Rauschebart und Hut, groß wie ein Baum, überragt die Gruppe. Fast könnte man meinen, Rübezahl hätte einen Abstecher aus dem Siebengebirge gemacht. Angeführt wird die Gruppe von zwei jungen Damen in langen Mänteln. Das sind sie also, die Geschichtenerzähler, mit denen ich das Wochenende verbringen werde. Neue Namen und Gesichter, alte Bekannte. Ich freue mich unheimlich auf diese Menschen und die nächsten Tage. Die Damen mit den langen Mänteln sind der Grund, warum ich hier bin. Juliana und Simone haben zum Dark Room Yarn Workshop geladen. Wie verbindet man Wort und Bild am besten zu einer Geschichte? Darum soll es an diesem Wochenende gehen.

Beim Essen im Hotel erzählen wir uns schon die ersten Geschichten, von schiefgegangen Hochzeiten und Junggesellenabschieden, die in der Psychiatrie enden. Noch bis tief in die Nacht fachsimpeln wir Jungs über Technik. Sony A9, siebeneinhalb und so weiter. Zu früh klingelt mein Wecker. Irgendjemand bei mir im Zimmer zersägt gerade die schicke hölzerne Einrichtung. Ich hatte mir am Vorabend fest vorgenommen, an der Elbe laufen zu gehen. Also lasse ich meinen inneren Schweinehund weiterschlafen und mache mich auf dem Weg. In den Gipfeln hängt noch der Nebel, während die Sonne sich durch die Wolken kämpft. Auf dem Rückweg schnauft auf der anderen Elbseite eine Dampflok gen Tschechien.

Nach dem Frühstück treffen wir uns bei Juliana und Simone unterm Dach. Jeder hat einen kleinen, aber bedeutsamen Gegenstand mitbringen sollen: Bald liegen ein Duplo-Batman, Kieselsteine, ein Ehering, ein Flamingo, eine Glocke und ein Rasierer auf dem Tisch vor uns. Jeder Gegenstand birgt eine Geschichte. Und um Geschichten, Erzählformen, Schreibstile geht es in den nächsten Stunden. Viel Theorie. Wir lernen, dass Dreiecke essentiell sind, um gute Stories zu erzählen. Dann dürfen wir auch endlich eine Geschichte schreiben. Wir ziehen aus einer kleinen schwarzen Kiste zwei alte Fotos und schreiben drauf los. Was könnte es mit dem Foto auf sich haben? Es entstehen Geschichten von Männern ohne Hose am Strand und Autopannen. Jede Geschichte ist erfrischend anders.

Nach der Mittagspause, in der wir wagenradgroße Kuchenstücke verdrücken, erwartet uns fotografische Theorie. Wie kann man mit Bildern Geschichten erzählen? Juliana zeigt viele Beispiele und gibt Tipps. Am Abend macht sich die Gruppe nach Tschechien auf. In Děčín steppe der Bär, hat man uns erzählt. In Schmilka hänge er eher tot überm Zaun. Nach dem langen Tag schleppen wir uns mit letzter Kraft in das erstbeste Lokal am Markt. Anschließend ziehen wir durch das nächtliche Děčín auf der erfolglosen Suche nach dem Bären. Eingedeckt mit tschechischem Bier und Schnaps von der letzten Tankstelle machen wir es uns daher lieber auf unserem Zimmer gemütlich. Bis spät in die Nacht wird geschnattert. Über uns, unsere Arbeit. Erfolge und Misserfolge. Irgendwann falle ich in ein Zeitloch: Kurz vor 2 Uhr mache ich mich auf den Weg zur Toilette. Bei meiner Rückkehr ist es plötzlich kurz nach Drei. Kein Zeitloch, nur die verdammte Zeitumstellung.

Am nächsten Morgen bleiben die Jogging-Klamotten im Schrank. Heute folgt der fotografische Praxisteil, auf den wir uns alle besonders freuen. Nach dem Mittagessen geht es in Zweiergrüppchen raus in die Berge. Wir sollen unser Gegenüber portraitieren – so, wie es sich selber sieht. Nach zwei Stunden trudeln wir wieder unterm Dach ein und bearbeiten unsere Bilder. Danach folgt die Präsentation. Ein Knallerbild nach den anderen flickert über den Beamer. Alle sind begeistert und glücklich. Irgendwann ist er dann auch vorbei, der Dark Room Yarn Workshop von Juliana und Simone. Mit den letzten Sonnenstrahlen machen wir uns noch einmal auf zum Fluß. Motiviert von den Portraits am Nachmittag haben alle ihre Kameras dabei. Zum Abendessen treffen wir uns wieder im Hotel Helvetia, wo Max, der eigentlich Stefan heißt, besonnen seinen Dienst schiebt.

 

Am Montagmorgen herrscht Aufbruchsstimmung. Nach dem Frühstück gibt es noch ein Gruppenfoto. Mit Drohne. So macht man das heute. Wir verabschieden uns. Menschen, die mir vor drei Tagen noch fremd waren, sind es nun nicht mehr. Bald werden im Rückspiegel die Berge der Sächsischen Schweiz immer kleiner. Je kleiner die Berge werden, desto besser wird der Empfang auf meinem Handy. Ich habe Geschichten gehört und erzählt. Habe zugehört, geschrieben und fotografiert.

Geschichten. Geschichten will ich erzählen. Keine Geschichten von Drachen oder Rittern. Sondern die Geschichten der Menschen, die ich fotografiere. Das müssen keine Helden sein. Sie müssen einfach nur sie selbst sein.

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